Die Jahreslosung 2026 ist ein Ausruf der Hoffnung: «Und der auf dem Thron sass, sprach: Siehe, ich mache alles neu!» (Offb 21,5). Der Kontext des Bibelverses ist freilich düster. Bevor ein Neubeginn möglich wird, ergiesst sich der Zorn Gottes über die Welt. In einer Zeit, in der die Wissenschaft fatale Auswirkungen des Klimawandels prophezeit und unzählige Kriege toben, klingt das Buch erschreckend aktuell.
Prophetische Analyse
Der Seher Johannes beschreibt in der Offenbarung in grellen Sprachbildern die Vision, die er auf Patmos empfangen hat. Er sieht einen Drachen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern, hört den Abgesang der Posaunen auf die Menschheit. Die Inszenierung des Untergangs hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Durch alle Zeiten diente sie als Masseinheit für Plagen und Gefahren, denen die Menschen ausgesetzt werden können. Vermutlich gab es noch nie ein Zeitalter, in dem der Weltuntergang nicht unmittelbar erwartet worden wäre.
Zuweilen lassen die Bezüge zwischen der endzeitlichen Überlieferung und der Weltgeschichte selbst ganz rationale Menschen erschaudern. So las sich die Offenbarung nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 in der atheistischen Sowjetunion wie eine präzise Zustandsbeschreibung: Johannes erzählt vom Stern Wermut, der auf die Erde kracht und den Tod bringt, «weil das Wasser bitter geworden ist» (Offb 8,11). Auf Ukrainisch bedeutet Wermut «Tschornobyl» und trägt damit den Ortsnamen jener atomaren Apokalypse, die das Wasser verseuchte und eine radioaktive Wolke nach Westen schickte.
Der Tod ist am Ende
Für den Theologen Andreas Loos von der Fachstelle Fokus Theologie in der reformierten Kirche des Kantons Zürich ist die Offenbarung mehr als ein globales Untergangsszenario. «Apokalypse ist immer», sagt er. Jeder Mensch müsse im Leben immer wieder «aus einer persönlichen Apokalypse» herausfinden und neu beginnen. Ohnehin bedeutet der Begriff im wörtlichen Sinn eigentlich gar nicht das Ende der Welt, sondern Enthüllung, Offenbarung.
Thorsten Dietz von Fokus Theologie sagt: «Wahrzunehmen, dass zerstört und gestorben wird, gehört zum Leben.» Die Offenbarung entwerfe keinen Fahrplan für den Untergang. Vielmehr sei «der Schrei der Bedrängten» darin zu hören. Johannes schreibt aus der Sicht der verfolgten Christen, will ihnen Trost und die Hoffnung auf Gerechtigkeit vermitteln: «Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein» (Offb 21,3).
Das Lamm auf dem Thron
Wie alle prophetischen Visionen ist die Offenbarung zunächst eine genaue Analyse der herrschenden Verhältnisse. Auch Johannes spielt mit Zahlenkombinationen auf die Ereignisse und Personen seiner Zeit an. Im Blick hat er etwa Kaiser Nero, der die Christinnen und Christen verfolgte. «Diese Perspektive ist entscheidend», betont Dietz. Sie verbiete es, die Offenbarung als Herrschaftsinstrument einzusetzen, wie es «in der langen Missbrauchsgeschichte durch das imperiale Christentum» geschehen sei.
Die Machtkritik ins Bild setzt der Seher, indem er das Lamm zum Herrscher krönt. Die Inszenierung der kaiserlichen Gewaltherrschaft wird in eine Metapher verkehrt, die dem Opfer den Thron überlässt. Hinter der symbolhaften Sprache verbirgt sich die eindringliche Warnung, dass der Platz der Religion niemals an der Seite des hegemonialen Imperiums sein kann.
Die Gegenwart Gottes
«Aus der Offenbarung spricht die Hoffnung auf die vollendete Gegenwart Gottes», sagt Loos. Das Evangelium wiederum erzählt von Momenten, in denen Jesus den Himmel auf die Erde bringt, indem er zeigt, was es heisst, wahrhaftig Mensch zu sein. Die Jahreslosung verbindet beides. Sie sagt nicht, dass Gott alles kaputt, sondern alles neu macht, überall da, wo seine Liebe Versöhnung und Frieden möglich macht.
