Politik 26. April 2024, von Anouk Holthuizen

Weshalb Jesus der bessere Mann ist

Genderfragen

Extremistisches Gedankengut ist Männersache, doch dieser Tatsache wird kaum Rechnung getragen. Laut männer.ch wächst die Dringlichkeit. 

Im März ging in Zürich ein 15-Jähriger mit einem Messer auf einen jüdischen Mann los und verletzte ihn schwer. Recherchen zeigten: Der Jugendliche ist Anhänger des Islamischen Staats, ein Einzelgänger, der viel Zeit online verbrachte. 

Rasch wurden Forderungen nach mehr Prävention gegen Antisemitismus laut, doch ein Merkmal extremistischer Gewalt fand in der Debatte darüber, wie man sie verhindern kann, kaum Beachtung: Attentäter sind fast ausnahmslos Männer. 

Es wird als Normalzustand hingenommen. Zwar fordert der Nationale Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus geschlechtsspezifische Massnahmen, aber auf der Liste der vom Bundesamt für Polizei finanzierten Programme behandelt gerade mal eins das Thema Geschlecht. 

Kompensation und Halt

Es ist die letzten Januar erschienene Analyse «Faktor M» der Fachstelle männer.ch, unter deren Dach 2022 die Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext entstand. Markus Theunert, seit über 25 Jahren in der Männerarbeit tätig, zeigt darin auf, welche Facetten von Männlichkeit Radikalisierung vorantreiben und was dagegen zu tun wäre. 

Als begünstigend erweisen sich Ideale wie dasjenige, Männlichkeit bedinge Status und Kontrolle über sich und andere sowie der Glaube an eine Hierarchie der Geschlechter. Besonders empfänglich dafür sind junge Männer aus bildungsfernen Milieus mit wenig Aufstiegschancen. «Indem sie Macht demonstrieren, versuchen sie ihren geringen Status zu kompensieren», sagt Markus Theunert. 

Die Glorifizierung gewisser Ideale, wie sie Trump oder Putin verkörpern, sind eine ernsthafte Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden.
Markus Theunert, Autor bei männer.ch

Auch in privilegierten Kreisen könne die Botschaft attraktiv sein. «Im Spannungsfeld zwischen Gleichstellungsanforderungen und traditioneller Rollenverteilung findet ein verunsicherter Mann im Bild des dominanten Mannes Halt.» 

Theunert ist überzeugt: Die Glorifizierung gewisser Ideale, wie sie Trump oder Putin verkörpern, sei eine ernsthafte Bedrohung für den gesellschaftlichen Frieden. «Ich sehe eine wachsende Tendenz, diese Ideologien voranzutreiben und antifeministische Ressentiments zu befeuern.» Tatsächlich sind «Incels» genannte Männer, die unfreiwillig Single sind und offen Frauenhass äussern, inzwischen auf dem Radar des Bundesamts für Polizei. Theunert: «Mehr Geschlechterreflektion ist dringend notwendig, auf vielen Ebenen.» Auch in der Kirche.

Skandale befeuern Diskussion

Damit rennt er bei Christoph Walser offene Türen ein. Der Zürcher Pfarrer ist Mitglied der Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext. «Die Kirche ist sogar der ideale Ort für Geschlechterarbeit. Wir sind nah bei Menschen und haben das perfekte Vorbild des antipatriarchalen Mannes: Jesus.» Es sei kein Zufall, dass einige Pioniere der Männer- und Väterarbeit in der Schweiz Theologen seien.

Dennoch ist sie stets ein Nischenthema geblieben. In den 90er-Jahren tauchte Männerarbeit öfter in der gesellschaftlichen Debatte auf, nach 2000 jedoch wurden die wenigen Männer- zugunsten von Genderfachstellen aufgehoben. Diese aber fördern vor allem Frauen- und vermehrt LGBTQ-Projekte. 

Erst mit den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche in den letzten Jahren hat die Männerarbeit wieder Aufwind erhalten. Sie waren ein Grund, weshalb vor zwei Jahren die ökumenische Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext ins Leben gerufen wurde.

Potenzial wird nicht genutzt

«Unser Ziel ist es, ein positives Männerbild vermitteln», sagt Walser, doch dazu brauche es Angebote. «Für junge Frauen gibt es viele stärkende Projekte, aber junge Männer haben keinen Ort, wo sie sich konstruktiv mit ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzen.» Man wolle Projekte für Buben und im Bereich Vater-Kind lancieren. «In der Kirche gäbe es viele Orte für Reflexion von Mannsein, zum Beispiel auch in der Armee- und Gefängnisseelsorge. Sie findet aber nicht statt.» 

Das bestätigt Thorsten Bunz, Pfarrer in der Aargauer Kirchgemeinde Bözberg-Mönthal und Gefängnisseelsorger. Auch in der Männergruppe der Kirchgemeinde spreche man nicht speziell über das Mannsein. «Aber da sie dort unter sich sind, sprechen die Männer eher über Gefühle – was die Akzeptanz von Verletzlichkeit fördern dürfte.» Gender bringe er nur in einem Bereich explizit aufs Tapet: «Den Konf-Unterricht gestalten meine Frau und ich bewusst zu zweit. Und die Konfirmanden wissen, dass wir ein egalitäres Geschlechterbild leben.»

Hilfe holen statt schweigen

Die Thematik, wie Markus Theunert sie schildert, ist an einigen Orten zumindest angekommen. Jens van Harten, Jugendbeauftragter der Zürcher Landeskirche, und der kantonale Dachverband für Jugendarbeit Okaj organisierten gemeinsam eine Weiterbildung im Umgang mit destruktiven Männerbildern. «Das war auf Wunsch der Jugendarbeiter, nachdem sie öfter mit jungen Männer zu tun haben, die auf Social Media Macho-Influencern folgen.» 

Gendersensible Arbeit sei generell wichtig, so van Harten. «Das Risiko zu sterben ist für junge Männer dreimal höher als für junge Frauen. Das muss nicht sein, wenn sie lernen, dass Mannsein auch lustvoll ist, wenn sie sich selbst und anderen nicht schaden, sich trauen, bei Problemen Hilfe zu holen und die ganze Vielfalt an männlicher Stärke auszuleben.» 

Frauen- und Gendertagung der EKS

Am 27. Mai findet die jährliche Gendertagung der Evangelisch-reformier-
ten Kirche Schweiz (EKS) statt. Auf dem Programm stehen Referate und
Workshops zum Thema sexueller Missbrauch in der Kirche. 

Programm und Anmeldung: www.evref.ch