Meinung 13. Dezember 2023, von Felix Reich

Fürchtet euch nicht vor der Verletzlichkeit

Advent

Die Friedensbotschaft von Weihnachten scheint schlecht zur Weltlage zu passen. Gerade deshalb ist sie aktuell. Sie ermutigt, der Hoffnung zu vertrauen, die im Verborgenen wächst.

«Fürchtet euch nicht!», ruft der Engel den Hirten zu (Lk 2,10), die draussen auf dem Feld zuerst von Weihnachten erfahren. Mit der Engelsbotschaft vom Frieden auf Erden bricht das himmlische Licht ins Dunkel der Welt hinein.

In diesen Tagen wirkt die Weltlage besonders dunkel. Wer die aktuellen Bilder der Zerstörung und des Krieges sieht, hat viel Grund zum Fürchten. Das Licht des Friedens scheint weit weg.

Das zynische Aber

In Gaza befindet sich die Zivilbevölkerung in der Geiselhaft der Hamas und ist den Angriffen der israelischen Armee schutzlos ausgeliefert. In Bergkarabach vollzieht sich abseits der Schlagzeilen ein christlicher Exodus. Der Uk-raine steht der nächste Kriegswinter bevor. Im Sudan tobt ein blutiger Machtkampf zwischen Armee und Paramilitärs, er treibt über eine Million von Menschen in die Flucht. 

Die Liste der Krisen ist lang und unvollständig. Und wenn die Angst vor dem Abstieg grassiert, gedeiht Ausgrenzung besonders gut, sie taugt zum Parteiprogramm. Der Antisemitismus zeigt seine Fratze. Debatten verhärten sich. Statt des Mitgefühls dominiert das zynische Aber des Relativierens.

Ermutigende Worte

Auf der Suche nach Trost blättere ich durch das Kirchengesangbuch. Oft ermutigen mich Texte, in denen das «Fürchtet euch nicht!» der Weihnachtsgeschichte gespeichert ist. Sie lehren eine Haltung, die das Pingpong der Totschlagargumente überwindet.

Mein Blick fällt auf eine Strophe, die von jenem Licht inspiriert ist, von dem der Prophet Jesaja im Alten Testament erzählt und das Christinnen und Christen seit jeher auf Weihnachten beziehen:

Die Liebe geht nicht mehr verloren. Das Unrecht stürzt in vollem Lauf. Der Tod ist tot. Das Volk jauchzt auf und ruft: ‹Uns ist ein Kind geboren!›

Verfasst hat die Zeilen Jan Willem Schulte Nordholt. Er kannte die schwarze Nacht. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er in den Niederlanden unter deutscher Besatzung für die protestantische Zeitschrift «Vrij Nederland». Mehrmals wurde er von den Na-tionalsozialisten verhaftet.

Das Undenkbare geschieht

Von der Liebe, die bleibt, und dem Unrecht, das ins Stolpern gerät, schrieb Nordholt 1959. Zwar standen sich damals in der Weltpolitik zwei Blöcke unversöhnlich gegenüber, doch zwischen Ländern wie Deutschland und Frankreich war ein Friede möglich geworden, der undenkbar schien. 

Die Geschichte des Undenkbaren schrieb sich fort. Die Mauer, die Europa teilte, fiel ohne Blutvergiessen. Das Nagelkreuz aus der Kathedrale von Coventry, die deutsche Bomben vollständig zerstört hatten, steht als Zeichen der Versöhnung in der Berliner Gedächtniskirche.

Im Licht der Versöhnung

Manchmal hilft es, sich real existierende Friedensgeschichten in Erinnerung zu rufen. Auch diese Liste ist lang und unvollständig. Möglich wurden sie, weil Menschen ihre Angst überwanden und miteinander ins Gespräch kamen.

Sie haben um Verzeihung gebeten und verziehen. Sie haben im Licht der Versöhnung neu begonnen, ohne die Nacht des Hasses und der Gewalt zu vergessen. Sie wussten, dass Erinnern Friedensarbeit ist.

Den Tod besiegt

Der Tod ist nicht gestorben. Er regiert bis heute. Doch mit der Geburt des Kindes, die an Weihnachten gefeiert wird, bringt Gott seine Liebe als ein helles Licht in die Welt. 

Das Kind in der Krippe wird den Tod besiegen. Nicht als strahlender Held, sondern als verwundetes Opfer der Gewalt. 

Sich berühren lassen

Jesus heilt, indem er sich vom Leid berühren lässt und die Leidenden berührt. Er setzt der Unbarmherzigkeit des Urteils das Erzählen der Gleichnisse entgegen. Er unterläuft den Stillstand des Todes mit der Bewegung der Liebe und des Lebens und kontrastiert die von der Angst genährte Ausgrenzung mit der auf Vertrauen bau-enden Gastfreundschaft. 

Wer sich berühren lässt, statt abzustumpfen, ist verletzlich. Und ein Gespräch, das sich der Spaltung widersetzt, indem sich Missverständnisse auflösen können und unterschiedliche Wahrnehmungen stehen bleiben dürfen, setzt diesen Mut zur Verletzlichkeit voraus.

Leuchtende Adventsmomente

Vielleicht richtet sich das «Fürchtet euch nicht!» der Engel auch gegen meine Scheu, mich der Hoffnung auf Frieden hinzugeben, weil sie angesichts der harten Realität naiv erscheint. Doch das Kind in der Krippe zeugt davon, dass die Hoffnung oft im Verborgenen wächst und das Licht im tiefen Dunkel flackert. 

Wenn im Friedensdorf Neve Shalom/Wahat al-Salam in Israel jüdische und muslimische Familien ihren Alltag teilen, Kirchen im Südsudan Friedensarbeit leisten und hierzulande Religionsgemeinschaften im Gespräch bleiben und sich nicht spalten lassen, so sind dies Adventsmomente, welche die Hoffnung auf Versöhnung nähren. Solange solche Lichter brennen, geht die Liebe nicht verloren.