Meinung 12. März 2024, von Iwan Petrow

Nawalnys Vermächtnis

Analyse

Der russische Publizist und Kirchenkenner Iwan Petrow beleuchtet den Glauben und das Vermächtnis von Alexei Nawalny. Aus Sicherheitsgründen schreibt er unter einem Pseudonym.

Am 1. März wurde Alexei Nawalny nach orthodoxer Tradition in Moskau begraben. Obwohl allen in der Kirche Getauften ein orthodoxes Begräbnis zusteht, wurden Zweifel laut: Wie oft hatte er an den Sakramenten teilgenommen? Anhänger wiederum erklärten, man müsse ihn als Märtyrer kanonisieren.

Wie in der Passionsgeschichte

Alexei selbst hat sich lange vor seiner Verhaftung als «postsowjetischen Gläubigen» bezeichnet, etwa der Fastenzeiten einhält, aber selten zur Kirche geht. Und er sagte, dass sich sein Umfeld, zu dem viele Atheisten gehörten, oft über seinen Glauben lustig mache. Im Glauben fühlte sich Alexei «als Teil von etwas Grösserem und Allgemeinerem», das eine «besondere Ethik und Selbstbeschränkung» beinhalte.

Schon wie er die Vergiftung im August 2020 überlebt hatte und danach nach Russland zurückkehrte, erinnerte manche an die Auferstehung Christi. Noch deutlichere Parallelen zog die Geschichte seiner dreijährigen Inhaftierung unter härtesten Bedingungen, der wahrscheinlich gewaltsame Tod und dass seine Mutter die Behörden lange darum bitten musste, ihr den Leichnam ihres Sohnes zu übergeben.

Durst nach Gerechtigkeit

Während der Haft konnte Alexei kaum mit der Aussenwelt kommunizieren, doch hörten wir von ihm eine echte christliche Verkündigung. Im Schlusswort am 20. Februar 2021 vor Gericht sagte er: «Ich bin heute ein gläubiger Mensch, das hilft mir in meiner Tätigkeit, weil alles viel, viel einfacher wird. Ich zerbreche mir weniger den Kopf, habe weniger Dilemmata in meinem Leben, weil es ein Buch gibt, in dem mehr oder weniger klar geschrieben steht, was man in jeder Situation tun soll.»

Danach interpretierte er die Bergpredigt: «Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, sie werden gesättigt werden» (Mt 5,20). Der Satz klinge exotisch, doch eigentlich bringe er die wichtigste politische Idee zum Ausdruck, «die es heute in Russland gibt».

Ethik vor dem Ritual

In seinem Blog beschrieb Alexei, wie er sich bemühe, den Wunsch nach Gerechtigkeit nicht in Hass auswachsen zu lassen. Was bedeutet das in der Praxis? Alexei erzählte, wie man einen anderen Häftling zu ihm in die Zelle sperrte, der die Regeln der Hygiene längst vergessen hatte. Er musste mit ihm im Abstand einer Armlänge dasitzen. «Gemäss den Regeln hätte ich diesen Kerl aus der Zelle jagen sollen, ihn schlagen, bedrohen. Doch einen unglücklichen, kranken, lahmen Alkoholiker schlagen, das wäre nicht die richtige Antwort auf die Frage: Was würde Jesus tun?»

Nach dieser Erzählung sind Fragen, wie oft Alexei gebeichtet und die Kommunion zu sich genommen hat, überflüssig. Sein Christentum stellt die Ethik an erste Stelle, nicht das Ritual. Das ist besonders bedeutsam, weil die offizielle Kirche das Gegenteil tut.

Die politische Wende

Eine Kanonisierung ist nicht zu erwarten, es gibt keine formale Grundlage zu behaupten, dass Alexei für seinen Glauben an Christus getötet und deshalb zum Märtyrer wurde. Doch besteht kein Zweifel, dass er sein Leben für Ideale hingab, die vom Evangelium geprägt waren. Wir haben einen Berg voller Blumen, Warteschlangen vor dem Friedhof gesehen: Verehrung durch das Volk braucht keine offizielle Kanonisierung.

Zu Lebzeiten haben einige Aussagen und Handlungen Alexeis auch bei mir Widerspruch und Unverständnis ausgelöst, doch seine Ansichten haben sich verändert. Beides ist für einen Politiker normal.

Die grosse Leistung

Seine Leistungen sind unbestritten: Er war praktisch der erste Oppositionspolitiker, der es geschafft hatte, eine weit verzweigte Struktur in den Regionen aufzubauen und viele Tausende Menschen zu mobilisieren. Zwar lernte der Kreml mit repressiven Massnahmen erfolgreich damit umzugehen. Doch mit seinem Leben und mit seinem Tod hat Alexei bezeugt, wie christliche Werte Grundlage politischer Handlungen sein können. Und die offizielle Kirche hat rein gar nichts damit zu tun.

Solange es in Russland einen Parteienwettbewerb gab, wurde immer wieder über die Gründung einer christlichen Partei debattiert. Ohne Ergebnis. Vermutlich, weil eine solche Partei nur unter klerikaler Kontrolle existieren und nur die Interessen von Wählern vertreten könnte, die starke rechtsnationalistische Ansichten haben.

Ein anderes Russland

Alexei zeigte der Welt und der russischen Opposition, dass es für Christen in der Politik einen anderen Weg gibt, so wie es auch ein anderes Russland und eine andere russische Orthodoxie gibt. Dieses Wissen kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Aus dem Russischen übersetzt von Regula Zwahlen, Forum RGOW