Porträt 25. April 2024, von Mirjam Messerli

Das Gefängnis hat auch sie verändert

Strafvollzug

13 Jahre leitete Annette Keller das Frauengefängnis Hindelbank. Nun geht die «Hüterin eines menschenwürdigen Vollzugs» in Pension.

Die von Kameras überwachte Eingangstür fällt mit einem Klicken ins Schloss. Allein wird man sie auch als Besucherin nicht wieder öffnen können. Für manche der über 100 Frauen, die hier in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hindelbank ihre Strafen verbüssen, bleibt diese Tür jahrelang verschlossen.

«Die Frauen können nicht wie wir am Abend raus, und sie müssen viele Regeln einhalten. Dessen sollten wir uns stets bewusst sein», sagt Annette Keller, die seit 13 Jahren das Frauengefängnis und 100 Mitarbeitende führt. Ende Mai wird sie pensioniert – was schwer vorstellbar ist, wenn man sie über ihre Arbeit erzählen hört: Sie tut dies im Thurgauer Dialekt und mit einer ansteckenden Begeisterung. 

«Wir haben viel erreicht», sagt sie. Und meint damit nicht zuerst sich selbst, wie sie betont, sondern ihre Mitarbeitenden und die inhaftierten Frauen. «Wir haben unterschiedliche Rollen. Aber wir arbeiten hier zusammen. Egal ob drinnen oder draussen: Wir sind alle Menschen.»

Der Entzug der Freiheit, die ständige Kontrolle: Das ist die Strafe.
Annette Keller

Es klingt seltsam, aber die einzige Frauenstrafanstalt in der Deutschschweiz ist ein schöner Ort. Die Gebäude liegen am Hang oberhalb des Dorfes Hindelbank, sind von Feldern umgeben. Im historischen Garten der ehemaligen Schlossanlage spriesst und blüht es. «Es ist ein Privileg, an einem solchen Ort arbeiten zu dürfen», sagt die Direktorin.

Nach einem Dok-Film von SRF über das Gefängnis habe es Kommentare gegeben wie: «Aha, so schön haben es also die Insassinnen hier» oder es sei ein «Kuschel-Knast». Annette Keller schüttelt den Kopf und verwirft die Hände: «Der Entzug der Freiheit, die ständige Kontrolle: Das ist die Strafe.» 

Die Frauen nähmen sie als «Hüterin eines menschenwürdigen Strafvollzugs» wahr, sagt Annette Keller. Die ehemalige Lehrerin, Theologin und Sozialarbeiterin orientiert sich dabei auch an der Bibel. «Ihre Geschichten ermutigen mich. Sie zeigen mir, dass man genau hinschauen und etwas fordern und trotzdem mitfühlend bleiben kann.»

Austritt beginnt an Tag eins

Tritt eine Täterin durch die Tür des Gefängnisses und damit ihre Strafe an, beginnt bereits die Vorbereitung auf den Austritt der Frau. Die Resozialisierung ist der gesetzliche Auftrag und das Ziel. 

«Wenn die Frauen hier wieder rausgehen, sollen sie einen Rucksack bei sich haben. Darin: Fähigkeiten, Einsichten und die Zuversicht, dass sie es schaffen können», erklärt Keller. 80 Prozent der Frauen aus Hindelbank schaffen es: Sie kehren nicht mehr ins Gefängnis zurück. Dies ist auch das Verdienst einer Direktorin, die offen dafür war, Neues auszuprobieren.

Es ist mir in diesen Jahren bewusst geworden, wie viel Glück ich in meinem Leben hatte und habe.
Annette Keller

Ein Herzensprojekt von Annette Keller ist die vor zwei Jahren eröffnete Aussenwohngruppe für zehn Frauen. Diese proben hier den Normalfall. Sie arbeiten ausserhalb des Gefängnisses und organisieren ihren Alltag weitgehend allein. «Jedes Mal, wenn ich dort zu Besuch bin, erfüllt mich das mit Freude», sagt Annette Keller.

Wenn die Direktorin Ende Mai das Frauengefängnis verlässt, wird auch sie einen Rucksack voller Einsichten mit sich tragen. Die wichtigste: «Es ist mir in diesen Jahren bewusst geworden, wie viel Glück ich in meinem Leben hatte und habe.» 

Ebenfalls im Rucksack befinden sich Ideen für die Zeit nach dem Berufsleben. Zuerst aber will sie sich einfach Zeit nehmen – für das Alltägliche und das, was ihr begegnet. Weiterhin aktiv sein wird sie als Wahlbeobachterin für das Schweizer Aussendepartement.

Annette Keller kommt mit zum Haupteingang des Gefängnisses. Mit ihrem Batch öffnet sie die Tür des Bürogebäudes, eine Gittertür, noch eine Gittertür und schliesslich die Tür zur Loge. Dort erhält die Besucherin ihren Ausweis zurück. «Ich mache Ihnen auf», sagt die Pförtnerin. Und die Tür öffnet sich mit einem Klicken.